Friedrich Wilhelm Voigt
Armeemusikinspizient F. W. Voigt: Friedrich Wilhelm Voigt, geboren am 22.3.1833, war wurde 1897 von Kaiser Wilhelm I., der am gliechen tag wie Voigt Geburtstag hatte, zum ersten deutschen Armeemusikinsipizienten und damit ranghöchster Militärmusiker des Kaiserreichs ernannt. Seine Märsche werden auch heute noch von Bundeswehrorchestern gespielt. Am Krieg von 1870/71 nahm Voigt als Kapellmeister des 1. Garderegiments zu Fuß aus Potsdam teil. Seine Briefe aus dem Feld nach Hause vermitteln heute einen ebenso lebhaften wie ungewöhnlichen Blick auf den deutsch-französischen Krieg. Dieses Motiv erschien 1933 aus Anlass seines 100. Geburtstags.
Deutsch-Französischer Krieg
Als preußischer Militärmusikus zieht Friedrich-Wilhelm Voigt im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 von Potsdam bis nach Paris. In seinen Briefen schildert er den von Bismarck angezettelten Feldzug, aus dem das wilhelminische Kaiserreich hervorging, aus einer höchst ungewöhnlichen Perspektive.
Bald nach der Kriegserklärung zieht das "1.Garderegiment
zu Fuß" ins Feld. Im Morgengrauen des 29. Juli 1870
marschiert das Regiment unter begeisterter Anteilnahme der
Bevölkerung von Potsdam nach Berlin, von der Musik bis zur
Glienicker Brücke begleitet. Vorneweg dabei: Freidrich Wilhelm
Voigt, Jahrgang 1833, Kapellmeister des Regiments. Die Hoboisten,
wie Militärmusiker hießen, müssen bei großer
Hitze und weiten Wegen in Berlin mit dem Tornister marschieren. "Craonelle, den 12.September 1870. Ich ließ
im Garten unsere Musik spielen. Wenn Du doch an meiner Seite hättest
sitzen können! Die Musik wurde sehr bewundert und mit sehr
schönem Obst und Wein regaliert. Mir fehlen von Kranken neun
Mann, die unterwegs sind, sie fehlen mir sehr beim Musizieren. Lange
nach dem 18.8. [der Schlacht von St. Privat] hat er [der König]
es vermieden, zu unserem Regiment zu kommen, weil er, wie er sagen
ließ, sich erst an den Gedanken [der schweren Verluste]
gewöhnen müsse. Als er im Biwak von Sedan nach der
Schlacht erschien, da sprach er große Worte des Dankes, aber
auch des Bedauerns. Unter Tränen ritt er rasch weiter. Neulich
brachte ich dem Kronprinzen von Sachsen, Führer der IV. Armee,
eine Abendmusik, welcher sehr erfreut war und sich lange mit mir
unterhielt. Die Sachsen sind jetzt glücklich und gehoben durch
die Siege, die sie miterrangen." Am 1. November müssen Voigts
Hoboisten fünf gefallene Soldaten zu Grabe geleiten, die,
unkenntlich oder in Stücke gerissen, gemeinsam in einer Grube
bestattet werden. Beinahe jeden Tag steht nun ein Begräbnis an;
am 7. November zwölf Mann auf einmal. Der Winter setzt früh
ein, am 9. November fällt der erste Schnee. Zum dreifachen
Geburtstag von Luther, Schiller und Scharnhorst improvisiert Voigt
zum Gedächtnis der drei großen Männer am Klavier
über "Ein feste Burg", über die "Ode an die
Freude" und den alten Pariser Einzugsmarsch von 1814. In die
Heimat berichtet er über seine neuen Schöpfungen: den
"Sieges- und Einzugsmarsch 1870" für Piano, Orchester
und Militärmusik; "Siegesklänge aus dem Feldlager vor
Paris"; "Germanis"; "Und Deutschland spricht:
Mein ist der Rhein", Gesang für Mezzosopran und Bariton
mit Piano; "Sedaner Lied"; "Rheinnixen",
Phantasiestück für Piano; "Deutscher
Feldherrenmarsch", für Piano, Orchester und Militärmusik.
"Voigt komponiert aus Langeweile einen Marsch nach dem
andern", bemerkt jetzt ein Vorgesetzter.
Am
30. Juli schifft sich die Truppe auf Kähnen bis Mannheim ein,
dann geht es über den Rhein nach Frankenthal in der Pfalz. Hier
gibt Voigt ein Konzert mit vaterländischen Stücken, das
gut besucht wird. "Die außerordentliche Anhäufung
von Truppen im Grenzgebiet hat große Teuerung zur Folge, Ein
Pfund Butter kostet jetzt einen Thaler", notiert er.
In
schweren Märschen geht es weiter über Dürkheim und
Landstuhl. Am 8. August überschreiten sie die Grenze:
"Drei
Nächte habe ich schon unter dem himmlischen Sternenmantel
zugebracht, durchnässt bis auf die Haut, in den nassen Sachen
ohne Schlaf, am Biwakfeuer kauernd, und dann mit der schweren Last
marschieren – marschieren. Die Feldpost bleibt aus seit dem
Ausrücken aus Berlin, keine Zeitungen. Der Oberbefehl weiß
kaum, was in der Welt vorgeht. So schlängeln sich die Kolonnen
in düsterem Schweigen auf dem aufgeweichten Wege. Die Uniform
verschmutzt. Geputzt kann nichts werden. Die Verpflegung besteht aus
Reis mit Fleisch vom eben geschlachteten Rind. Es wird von sechs bis
zwei Uhr marschiert, bisweilen auch länger. Die Biwaks sind
nachts sehr kalt, während am Tage eine Siedehitze herrscht. Die
Verpflegung kann nicht immer dem schnellen Vormarsch folgen, doch
gibt es annehmbaren roten Landwein, der stärkt und gut bekommt.
Das ‚Wandern’ wird einem schließlich über,
doch könnte man sich mit dem Unabänderlichen abfinden,
wenn nur die Vorgesetzten nicht gar zu energisch wären, was die
Stimmung trübt. Die Stimmung ist nicht allzu rosig; denn die
Zukunft ist dunkel. Was mag noch alles dazwischenliegen, und wie
viele werden wirklich heimkehren? Hier sieht man so recht, wie sehr
der schwache Mensch die Gottheit suchen muss. Wohl dem, der sie
findet!"
"Der Jammer
und das Elend sind groß"
Am
18. August nimmt Voigt am Angriff auf St. Marie aux Chènes
bei St. Privat teil:
"Wir gingen zu Anfang mit
hinein, u. a. unter den Klängen des Yorkschen Marsches. Dann
wurde ich mit dem Musikchor zurückgeschickt, doch heulten über
und um uns die Granaten. Wir haben alles mitangesehen, aber es war
entsetzlich. Königgrätz war nichts dagegen. Der Jammer und
das Elend sind groß. Das Regiment ist um mehr als die Hälfte
zusammengeschmolzen. Viele Brave sind gefallen. Mein Oberst von
Röder und sechs Offiziere; Feldwebel tot, 27 Offiziere schwer
verwundet. Das Begräbnis anzusehen war erschütternd. Auf
einem schlichten Brett wurden die Toten ohne alle Umstände der
Erde übergeben. In den Dörfern liegen die Häuser,
Straßen, Gärte alle voll von Verwundeten, doch sind sie
noch nicht alle vom Schlachtfeld zu besorgen gewesen. Wir waren am
Abend des 18. auf einer Höhe sechs Musikchöre zusammen; es
war schon dunkel, als es stiller wurde und wir Hurrarufe hörten.
Rasch wurde von allen 'Heil dir im Siegerkranz' angestimmt, was
gewaltigen Eindruck verursachte. Dann biwakierten wir dort und
suchten am anderen Morgen unser Regiment, wo wir von den
schmerzlichen Verlusten erfuhren. Aussehen tun wir durch Staub und
Hitze wie die Räuber."
Ende August geht es in
Eilmärschen nach Sedan, über Xonville, St. Michel,
Buzancy, Blany, immer der ausweichenden Armee des französischen
Generals Mac Mahon auf den Fersen:
"Wie es heißt,
sollen wir etwas Ruhe haben, das wäre ganz gut, denn wir sind
alle derangiert. Gestern habe ich auch meinen Koffer bekommen und
bin nun wieder etwas in Ordnung. Auch habe ich mich heut morgen
vernünftig waschen können. Wir sind alle braungebrannt wie
Zigeuner, dazu die Bärte, wirklich furchtbar anzusehen. Unsere
Instrumente leiden auch sehr. Jeden Tag ist Abendmusik beim General
von Kessel, der wohl auf und im stärksten Feuer unversehrt
geblieben ist, der die größte Kaltblütigkeit
bewahrte und durch Zurufe ständig die Leute anfeuerte. Unser
schönes stolzes Regiment, wie ist es dünn geworden, kaum
noch die Hälfte seines Bestandes. Sollen alle die Braven
ungerächt bleiben? Die Franzosen sollen aber erfahren, was
preußische Hiebe sind. Hier wachsen Unmassen von gelben
Mirabellen; sie schmecken sehr gut, man muss sich aber mit dem Obst
in Acht nehmen, denn Durchfälle sind im besten Gange. Rotwein
ist gut dagegen."
Am 26. August schreibt Voigt aus
Vaubecourt: "Mit der Gesundheit geht es so. Vor allem
müssen die Füße gut sein. Denke doch, was wir in den
vier Wochen zusammengelaufen haben, und ich habe alles mitgemacht.
Alarm 11 Uhr. Ausrücken in Regen und Matsch, bis 12 Uhr, dann
in einem Stall geschlafen, alles an, ganz nass. Kaffee von Hause
erhalten, tat gute Dienste. Die Nächte sind kalt, und oft geht
es schon morgens um drei Uhr und häufig ohne Kaffee fort.
Lebensmittel sind sehr knapp, und wir leben infolgedessen recht
dürftig. Wir knabbern den harten Zwieback. Durch die zwei
letzten Märsche haben meine Füße gelitten, bin etwas
gefahren. Die Kälte und der viele Regen wirken sehr nachteilig,
da wir meist im Freien sind und die Bekleidung immer nass und klamm
ist. Die Jacke, die du mir gesandt hast, ist wie vom Himmel
geschickt. Ebenso ist Kaffee immer willkommen. Heute (Sonntag)
furchtbarer Regen, weshalb wir hier in Quartier kamen. Das ganze
Musikchor liegt auf einem Heuboden."
Gottesdienst
auf dem Schlachtfeld
Am 3. September, dem
Tag nach der entscheidenden Niederlage der Franzosen und der
Gefangennahme Kaiser Napoleons III., liegt Voigt bei Givonne. Er
berichtet seiner Frau:
"Große entscheidende
Schlacht bei Sedan. Napoleon gefangen. Der König und Kronprinz
bei uns im Lager. Großer Jubel. Gegen Abend Gottesdienst auf
dem Schlachtfeld. Strömender Regen." Drei Tage nach
dem Triumph hat die Deutschen der Soldatenalltag wieder: "Connage,
den 6. September. Ermattung macht nach den großen Strapazen
sich fühlbar. Verpflegung sehr unregelmäßig.
Mittagessen selten. Das französische Brot ist zu weich und
sättigt nicht. Die Bewohner glauben unsern Erzählungen
nicht und meinen, wir seien auf der Flucht."
Doch
die Kämpfe sind nun vorbei, und Voigt sehnt sich nach seiner
Frau:
Preußen
in Frauenkleidern
Dann geht es gegen Paris,
das von den Deutschen eingeschlossen ist. Auf dem Weg werden die
Zerstörungen des Krieges offenbar:
"Gonesse,
den 22.September. Paris ist erreicht. Marschierten über
quergelegte Bäume, aufgerissenes Pflaster auf der Chaussee bis
Gonesse, wo wir einquartiert wurden, d. h. in verlassenen, teilweise
von den Franzosen in Brand gesteckten Häusern. Es ist eine
schreckliche Verwüstung. Paris ist von allen Armeen mit einem
festen Ring umschlossen und soll belagert werden. Es werden Schanzen
aufgeworfen. Die Wasserleitung nach Paris ist abgeschnitten. Das
Gebäude, wohin ich mit dem Chor gekommen, besteht aus mehreren
zusammenhängenden Häusern und hat Apotheke, Destillation
und Materialgeschäft. Wir fanden, als die Türen mit Kolben
und Äxten geöffnet wurden, viel Brauchbares. In der
Apotheke, die vollständig assortiert war, wurden anfangs die
Flaschen und Medikamente nur so herumgeworfen, bis die Ärzte
eingriffen. Den ganzen Tag Fuhrwerke und Reiter auf den Straßen.
Erst kochten die Soldaten in den Rinnsteinen, bis das anders
eingerichtet wurde. Bettzeug und Möbel sind meist fort, manches
wird entdeckt und bejubelt ans Tageslicht gezogen, so ein Weinlager,
darunter Champagner, das in unserem Hof vergraben war. ....
Wir
aßen ausgebuddelte Kartoffeln mit Salz, dazu ein Stück
Schinken. Als Nachtisch gab es das schönste Obst, Birnen,
Äpfel, Weintrauben. Hier sind die herrlichsten Villen,
wahrscheinlich reichen Franzosen aus Paris gehörend. Da wohnen
unsere Generale und Offiziere, dazu bekommen sie Musik von uns. Den
ersten Tag war es hier überaus lustig. Die Soldaten zogen in
der abenteuerlichsten Kostümierung, mit Masken, gefundenen
Instrumenten durch die Straßen, Bilder von Napoleon tragend,
ausgeputzt als Damen auf Velozipeden. Es war ein toller Auftritt."
Es war ein eigenes Gefühl, als wir in der glänzenden
Herbstsonne die Türme von Notre Dame, die Kuppeln des Pantheon
und des Invalidendoms erblickten, als die Hauptstadt des übermütigen
Feindes engumschlossen zu unseren Füßen lag. Dies Gonesse
ist der Ort, wo Offenbachs Operette 'Die Verlobung bei der Laterne'
spielt. Habe ich schon von dem beliebten Braten in Frankreich
geschrieben? Acht Tage hintereinander haben wir Karnickelbraten
gegessen; er schmeckt ganz gut, als Ragout mit Pfeffer. Aber immer
wieder 'lapin'?"
Großer
Auftritt vor dem König
Vier Tage später,
am 26. September, schreibt Voigt aus Gonesse: "Jetzt gibt
es nur noch halbe Lieferung. Milch, Butter, Eier kenne ich nur noch
aus der Erinnerung. Tag und Nacht sind die Mannschaften zu den
Erdarbeiten kommandiert, nur fehlt uns noch das
Belagerungsgeschütz."
Dafür hat Voigt
einen großen Auftritt vor dem König. Am 30. September
berichtet er nach Hause:
"Vorgestern war der König
hier. Da hatte ich Ehrenwache und auch bei Tafel zu spielen. Er
bekam durch Moltke gerade die Nachricht, dass Straßburg
kapituliert habe, wozu der König bemerkte, ‚wenn wir nur
erst mit Metz soweit wären’. Majestät sprach auch
mit mir, erkundigte sich nach dem Chor und fragte, ob von uns welche
gefallen wären und gab seiner Befriedigung darüber
Ausdruck, dass wir uns so gut gehalten. Ich muss mich allerdings
durchschlagen, so gut es geht; denn es fehlen mir noch acht gute
Kräfte, die ich sehr vermisse. Hier wird morgens exerziert, da
hat man so allerlei zu tun. Jeden Tag ist Musik bei den Generalen
oder übrigen Vorgesetzten. Wir kommen nicht aus der Übung."
Nur wenig später darf Voigt schon wieder vor
königlichem Besuch aufspielen - der Prinz von Anhalt besucht
das Regiment:
"Gonesse, den 5. Oktober. Gestern
Musik bei dem das Regiment führenden Oberstleutnant von Oppell.
Als Gast anwesend der Erbprinz von Anhalt. Er hat sich sehr gut über
die Musik ausgesprochen, und ich musste meinen neuen Pariser
Einzugsmarsch spielen, der ihm sehr gefiel, und, wie er hofft, bald
seinen Zweck erfüllen wird. Ich durfte mit ihm anstoßen
und trank auf sein und des ganzen fürstlichen Hauses Wohl. Wir
sprachen auch vom Theater und von den Opern, über die er
ziemlich unterrichtet ist."
Voigts kommandierender
General von Kessel notiert derweil: "Voigt hat sich bis
jetzt noch nicht bewogen gefunden, einen Marsch zu komponieren, er
ist infolge der anstrengenden Märsche noch so erschöpft,
dass sein Gehirn für Komposition nicht gestimmt ist. Nach dem
Frühstück musste ich dem König die hier erbeutete
Pauke durch Voigt vorstellen. Als Voigt hörte, dass der
Erbprinz von Anhalt-Dessau bei mir sei, intonierte er von selbst den
Dessauer Marsch, was den Prinzen sehr rührte. Eben war Voigt
bei mir, um mir zu melden, dass er einen neuen Marsch (noch nicht
getauft) komponiert habe und nebenan im Garten einüben wolle."
Fünf Gefallene in einer
Grube
Am 21. Dezember rückt das alarmierte Regiment gegen einen Ausfall der
Franzosen aus. Die Musik bleibt zurück zur Bewachung der
Quartiere. Es gibt einige Verluste durch Granatfeuer. Am folgenden
Tag schreibt Voigt:
"Mit der Kapelle zum Chateau le
Luat marschiert. Feierliches Begräbnis des am Typhus
verstorbenen Leutnants von Gordon, das im Park stattfand, wobei
Rogge die Grabrede hielt. Auf der Rückkehr sahen wir am Bahnhof
viele Verwundete, auch Franzosen, die fortgeschafft werden sollten.
Die Offiziere und Beamten baten, da sie lange keine Musik gehört,
um ein Stück. Ich blies den Preußenmarsch am Zuge, und
unter den Klängen der 'Wacht am Rhein' brauste der Zug davon.
Die Lazerettverwaltung erzeigte sich den Hoboisten durch Spendung
eines Fasses Bier erkenntlich."
Mit
Fantasie gegen Freischärler
Auf
Weihnachten und Jahreswechsel folgen Unannehmlichkeiten, verursacht
durch die eigenen Leute:
"6. Januar. Umzug nach
Villiers le Bel. Unser Mittagessen stand auf dem Feuer. Da stürzte
unser Hauptmann ins Zimmer und rief: Ja, das glaube ich, aber Sie
müssen gleich hier heraus und ausziehen. Ich bin mit den
Offizieren auch eben aus unserer Wohnung herausgesetzt, und da ist
dies Haus das einzige, das mir passt. Da half kein Beten, also ein
neues Quartier gesucht, par ordre de moufti, in dem stark besetzten
Ort. Das Ziehen ging mit Dampf los. Zwanzig Geister kamen schon mit
seinen (des Moufti) Sachen. Abraham, der Schellenbaumträger,
kannte sich nicht vor Wut über solche Rücksichtslosigkeit
und verfeindete sich alsbald mit unserem Stubengenossen Ebel. Alle
Sachen auf die Karre geladen, diese kippt um und alles fliegt in den
Schmutz. Bei einem alten Ehepaar fand ich endlich mit meinen beiden
Genossen eine nette Unterkunft. Auch die Offiziere schimpften über
ihren erzwungenen Umzug. Wann werden sie uns endlich nach Hause
schieben?"
Tröstlich für Voigt gewesen
sein wird dann der Besuch von Wilhelm I., soeben im Spiegelsaal von
Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Der Kapellmeister
notiert:
"Unsere Musik spielte, solange der Kaiser auf
der Brücke von Neuilly hielt, den „Sebastopol Marsch“,
den das Regiment beim Aus- und Einzug 1866 gespielt hatte und der
ein großer Lieblingsmarsch des Kaisers ist, der sich sehr für
diese Aufmerksamkeit bedankte." Über das Regiment
lässt Voigt dem Herrscher anlässlich von dessen
Inthronisierung seinen Marsch „Salus Caesari nostro Guilelmo“
zukommen.
Derweil kämpfen die Truppen hinter den Linien
mit irregulären französischen Freischärlern, den
"Franc-tireurs". Die Gegenmaßnahmen der Preußen
sind ebenso drastisch wie fantasievoll: "Bei dem nahen Dorf
Ecouen wurde aus einem Wald einige Male auf unsere Leute geschossen.
Damit das Versteck aufhört, wird der Wald beseitigt. Die
Bewohner müssen das besorgen. Dadurch haben sie Beschäftigung
und wir Brennholz."
Im
besetzten Paris
Am 28. Januar 1871
kapituliert das belagerte Paris. Wenige Tage später besucht
Voigt St. Denis, wo die grauenhaften Auswirkungen des deutschen
Bombardements zu besichtigen sind. Am 4. Februar hält Voigt
seine Eindrücke von der Rückkehr der geflohenen Einwohner
fest:
"Die Rückkehr der Franzosen in Massen
bewirkt Mangel an Lebensmitteln, da sie alles wegkaufen und sogar um
Brot betteln. Sie essen alles mit Heißhunger. Man sieht die
Leute in Scharen von St. Denis kommen, manche auf Karren. Einzelne,
die elegantesten Damen, in dem furchtbaren Schmutz, der hier
herrscht, kommen in den feinsten Stiefelchen anmarschiert, mit hohem
Chignon, dabei ein Brot unter dem Arm. Oft ganze Familien in Wagen,
etwas Bettzeug, blasse Kinder, verbissene Männer, resignierte
Frauen, es ist wie ein Korso, doch fehlen die Blumen."
Auch wenn aufgebrachte Franzosen einmal drohen, die
"Prussiens" in die Seine zu werfen, und Voigt sich
genötigt sieht, seinen Degen zu ziehen, entspannt sich das
Verhältnis von Besetzten und Besatzern zumindest hier und dort
recht zügig:
"12. Februar. Gestern Mittag
haben wir unweit der Brücke von Neuilly beim Café
Napoléon – Musik gemacht, wobei es sehr lebhaft zuging.
Die Franzosen waren entzückt, besonders als ich einige von
ihren Liedern spielte. Heute wieder Musik, das Getriebe der Pariser
war toll, lebensgefährlich ist das Gedränge, weil alle
einkaufen wollen und das Tor um 6 Uhr geschlossen wird. Da passiert
schon allerlei. Im Verkehr haben wir recht nette Leute
kennengelernt, auch einzelnen geholfen, so Familien mit Kindern,
auch habe ich schon verschiedene Einladungen nach Paris. Zu dem
täglichen Spielen erscheinen auch Jungen zum Notenhalten;
einmal sind es ihrer fünf. Brüder, alle gleich gekleidet.
Ich bin schon ziemlich bekannt als 'Chef de musique de la garde
prussienne'. Meine Uniform und die Orden gefallen. Auch finden sich
öfter französische Musiker en, so ein Professor vom
Conservatoire."
Und wenig später schreibt er
stolz nach Hause:
"Für alle die guten Sachen,
die ich spiele, herrscht Teilnahme und Verständnis bei den
empfänglichen Franzosen. Rechte Freude bereiten auch die
Pariser Weisen, die ich für unsere Kapelle zurecht gemacht
habe. Gleichen Beifall finden meine eigenen Kompositionen. Ich
bekomme täglich schmeichelhafte Komplimente über die Musik
und die Auswahl der Stücke. Meine Offiziere und andere wundern
sich über die guten Bekanntschaften, die ich hier gemacht habe.
Ja, die Musik ist eine edle Kunst; sie verbindet die Seelen der
Menschen, und diese Auswirkung ist nicht einmal der Sprache
vergönnt. In den Gärten haben wir mindestens drei
Nachtigallen, die einen wirklich bezaubernden Schlag haben nur passt
der Kanonendonner von Paris nicht recht dazu."
Abmarsch
in die Heimat
Am 3. März. findet die
große Siegesparade der deutschen Truppen vor Kaiser Wilhelm
auf dem Longchamp statt - der "Kaisermarsch" von Voigt ist
von Wilhelm zum Armeemarsch bestimmt. Die ersehnte Heimfahrt
verzögert sich trotz des Friedensschlusses, die Ungeduld bei
der Truppe wächst - auch bei den Hoboisten.
Friedensvertrag vom 10. Mai 1871:
Faksimile des
Friedensvertrages zwischen Deutschland und Frankreich,
den Otto von
Bismarck und Frankreichs Außenminister Jules Favre am 10. Mai
1871 in Frankfurt am Main unterzeichneten
Voigt wird das Warten durch ein erstaunliches Aufeinandertreffen verkürzt: Die Besitzerin eines Hotels, in dem er unterkommt, erzählt ihm, sie sei Deutsche und stamme aus Zeltingen; in ihrer Jugend habe sie in Trier beim Kapellmeister des 30. Infanterieregiments gedient, im Jahre 1839. Die Freude war groß, den jener Trierer Kappellmeister war kein anderer gewesen, als der Vater von Friedrich Wilhelm Voigt. Die Frau hatte seinerzeit einen französischen Hoboisten geheiratet, als Marketenderin viel Geld verdient und das Hotel gekauft.
Generalstab der preußischen
Armee: Der große Generalstab der preußischen Armee
1870/71.
In der Mitte stehend, mit verschränkten Armen,
Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke
Einzug der siegreichen Truppen: Der Einzug der siegreichen Truppen in Berlin nach Ende des deutsch-französischen Krieges. De bevölkerung bereitet den Soldaten am 16. Juni 1871 einen festlichen Empfang auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor. Die Aufnahme ist eine der ersten Momentfotografien, bei der die sich bewegenden Gruppen unscharf sind, da die feuchten Platten eine längere Belichtungszeit benötigten.
Friedrich Wilhelm Voigt erhält
das Eiserne Kreuz, im Jahre 1887 macht ihn Kaiser Wilhelm I. zum
ersten Preußischen Armeemusikinspizienten.
F. W.
Voigt stirbt 1894 in Bernburg. Er liegt begraben auf dem Neuen
Friedhof zu Potsdam.